
Drei Wochen in Armenien, einem Land, das mich zum Nachdenken bringt
Es ist ein kalter und bewölkter Donnerstag, an dem ich diese Zeilen verfasse. Ich sitze in der Küche von Antons Wohnung und blicke auf die Nachbarhäuser einer Wohnsiedlung in Gyumri, einer Stadt, die im Nordwesten Armeniens liegt, auf einer Höhe von 1600 Metern über dem Meeresspiegel und keine zehn Kilometer entfernt von der Grenze zur Türkei. Nicht nur draußen ist es kalt, auch in der Wohnung ist es ziemlich frisch – Anton möchte nicht zu viel Geld ausgeben für die Heizung und schaltet sie nur ab und zu ein, wenn es selbst ihm, der die Kälte Russlands gewohnt ist, zu kalt wird.
Seit etwas mehr als zweieinhalb Wochen bin ich inzwischen in Armenien, zuerst für eine Woche in der Hauptstadt Yerevan, und noch bis Samstag, also insgesamt zwei Wochen in der zweitgrößten Stadt Armeniens, Gyumri, bevor es weitergeht nach Georgien. Liegt es an diesem herbstlichen Tag, der mich nachdenklich stimmt und ich diese Zeilen mit einem gewissen Pessimismus verfasse? Oder liegt es einfach daran, dass die vergangenen drei Wochen mir Einblicke gegeben haben, die mich nachdenklich stimmen?
Die erste Woche in Yerevan war für mich eigentlich wie jede Woche für jemanden, der auf touristische Entdeckungstour in einer Stadt unterwegs ist: Man besucht die Sehenswürdigkeiten, sucht sich gute Cafés und Restaurants, genießt das schöne Wetter und den Charme, den eine Stadt, in der man noch nie zuvor gewesen ist, versprüht. Und Yerevan ist wirklich eine charmante Stadt – ich denke, nie zuvor habe ich eine Stadt besucht, in der es eine so große Anzahl an Springbrunnen gibt (und eine mindestens ebenso große Anzahl an Trinkbrunnen). Im Stadtzentrum, etwa drei auf drei Kilometer groß und zu einem Viertel umgeben von einem grünen Gürtel, vermischen sich historische Architektur mit sowjetischer, futuristische Neubauten mit jahrhundertealten Kirchen, durchbrochen von breiten (Auto-) Alleen mit den typischen Flanierwegen für Fußgänger, wie im Ostblock üblich. Hoch über der Stadt thront Mutter Armenien, weitere hauptsächlich sowjetische Denkmäler sind über der Stadt in ebenso großer Anzahl verteilt wie die besagten Springbrunnen.
Je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernt, desto größer wird die Anzahl von „Chruschtschowkas“ und „Breschnjewkas“, also den typischen sozialistisch-sowjetischen Plattenbauten, die ihre Namen den KPdSU-Führern jener Zeit verdanken, in denen sie errichtet wurden – ebenso typisch für alle anderen Länder des ehemaligen Ostblocks. Und das Leben jenseits des Stadtzentrums wird auch ein wenig typischer; man trifft auf Märkte (überdacht oder im Freien) mit Fake-Klamotten und -schuhen sowie sämtliche den alltäglichen Bedarf deckenden Gebrauchsgegenständen, und anstelle schicker westlicher Cafés und Restaurants gibt es in zunehmender Anzahl Kaffeeautomaten (der gemeine Armenier trinkt immer und überall Kaffee) sowie Imbisse und kleine Gastronomiebetriebe an den Straßenecken. So sieht das urbane Leben in Armenien aus, denkt man sich, und freut sich, daran teilhaben zu können.
Übrigens, nur am Rande bemerkt: Natürlich habe ich auch touristische Ziele außerhalb Yerevans besucht, darunter etliche Klöster, den Sevansee und ein paar andere Highlights. Und natürlich schaut es „auf dem Land“ anders aus als in der Stadt; allerdings: touristische Ziele sind in der Regel auch in ihrem Umfeld für Touristen entsprechend hergerichtet. Steuert man jedoch Ziele an wie das verlassene Radioteleskop „ROT-54“ erkennt man ab dem Verlassen der Autobahn, wie es um die Infrastruktur Armeniens in den ländlichen Gegenden bestellt ist…
Nach einer Woche verlassen Anton und ich Yerevan und fahren mit dem Taxi zu seinem Wohnort: Gyumri. Warum Taxi? Nun, weil es bequemer ist, nur zwei Stunden Fahrt sind und es umgerechnet „nur“ 20 Euro kostet. Dass es mit dem Zug auch für drei Euro pro Person ginge, bei ebenfalls zwei bis drei Stunden Fahrtzeit? Geschenkt, zumindest zu jenem Zeitpunkt. Antons Wohnung liegt ganz im Nordwesten Gyumris, einer Wohnsiedlung, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie vor oder nach dem verheerenden Erdbeben von 1988 errichtet wurde. Die Straße dorthin: Eine Schotterpiste mit einer Aneinanderreihung von Schlaglöchern, die nach dem Regen eher einer Ansammlung von Tümpeln gleicht. Das Apartmenthaus? Von außen eigentlich mit ansprechender Fassade, mit halbrunden Panoramafenstern im obersten Stockwerk als Akzent. Das Treppenhaus? Sozialistisch-einfach, wie ich es aus der Vergangenheit bereits gewohnt bin. Und die Wohnung? Modern, gefliest, mit zwei Schlafzimmern, Wohnzimmer, Küche, und einem allerdings zu kleinen Badezimmer.
Ins Stadtzentrum von Gyumri sind es etwa 12 Minuten mit dem Taxi, und dieses nutze ich eigentlich jeden Tag. Eine einfache Fahrt kostet umgerechnet 1,25 Euro. Gyumri wird ebenfalls von zahlreichen Touristen frequentiert, hauptsächlich aus Armenien, aber auch aus dem Ausland. Viele Franzosen, fällt mir auf, was aber daran liegen kann, dass der Chansonnier Charles Aznavour armenische Wurzeln hatte (und ihm zahlreiche Denkmäler in Armenien gewidmet sind, so auch ein Charles-Aznavour-Square mit überlebensgroßer Statue in Gyumri). Auch die Altstadt von Gyumri hat ihren Charme, und wenn Yerevan als rosarote Stadt bezeichnet wird (wegen des rosa Tuffsteins, aus dem viele Gebäude errichtet sind), so ist Gyumri die schwarze Stadt aufgrund des verbauten schwarzen Tuff. Da ich hier zwei Wochen verbringe, habe ich genügend Zeit, alle Sehenswürdigkeiten zu erkunden und jeden Tag einen Stadtbummel zu machen. Das Café Aregak in der Abovyan-Straße wird dabei mein Lieblingscafé, das ich fast täglich besuche: Hier gibt es nicht nur leckere Croissant-Variationen zu meinem Cappuccino; das Café wird geführt von Menschen mit Behinderung, die täglich dieses leckere frische Gebäck und Brot backen. Aber auch das Café Ponchik Monchik (ein Wortspiel mit dem russichen Wort ponchik für Krapfen) hat eine schöne Auswahl an süßen Teilchen, ebenso wie Herbs & Honey, das zudem mit einer Riesenauswahl an Tees aufwartet. Wenn ich schon beim Essen bin, möchte ich das Fischrestaurant Cherkezi-Dzor noch erwähnen sowie das kleine Restaurant Gwoog, die beide für ihre Küche über Gyumris Grenzen hinaus bekannt sind.
Übrigens, in den Restaurants gibt es neben Speisekarten auf Armenisch und Russisch auch welche auf Englisch. Etwas schwieriger gestaltet sich die Situation im Taxi, im Supermarkt oder bei der Straßenhändlerin um die Ecke. Während ich das Taxi per App ordern und bezahlen kann und keine verbale Kommunikation erforderlich ist, habe ich mir angewöhnt, meine Zigaretten im Supermarkt auf Russisch zu ordern und auch sonst eher Russisch zu sprechen – um mich für den Fall des Falles dann doch mit dem Satz „Ya ne ponimayo russkiy, ya nemez“ als nichtrussisch-sprechender Deutscher zu outen. Übrigens, die „Malboro krassniy“ (Marlboro Red) kosten hier gerade einmal umgerechnet 2,25 Euro für eine Packung mit 19 Stück anstelle der 10 Euro (oder inzwischen mehr?) in Deutschland – ich fühle mich also hier gewissermaßen im Raucherhimmel…
Im Supermarkt gibt es eine Mischung aus armenischen, vielen russischen und ein paar westlichen Produkten, wobei die Preise aus europäischer Sicht ziemlich günstig sind, ausgenommen Schokolade. Es gibt ganze Regale voll mit Wodka, und selbst im Supermarkt in der nächsten Straße gibt es bayerisches Hefeweizen in der Dose zu kaufen (wer’s braucht, ich probiere lieber die lokalen Biere). Ungewohnt für mich war, dass es im Supermarkt wie zu Omas Zeiten auch Lebensmittel aus der Schütte zu kaufen gibt oder auch Tiefkühlware abgewogen gekauft werden kann (Pelmeni beispielsweise oder Hähnchenschnitten, die so etwas wie Kiewer Kotelett darstellen sollen). Obst und Gemüse kaufen wir allerdings bei der Straßenhändlerin um die Ecke, es gibt eine gute Auswahl, es ist wirklich spottbillig und mehr als 500 Dram (also etwa 1,10€) habe ich bislang dort nie bezahlt.
So, was hat mich denn nun die vergangenen drei Wochen, die ich hier in Armenien verbracht habe, nachdenklich gestimmt? Der erste Punkt ist: das Geld. Ich habe in diesem Beitrag bereits einige Euro-Beträge erwähnt, die zu meinen Ausgaben gehörten. Nachdenklich gemacht hat mich eine Aussage Antons, als ich ihn zum Fischessen eingeladen hatte: unsere Rechnung betrug umgerechnet 40 Euro (was für armenische Verhältnisse ziemlich teuer ist), und er meinte, er hätte für dieses Geld auch einen Monat lang Essen kaufen können. Auch meinte er, dass ich mir für das Geld, dass ich jeden Tag im Café für einen Cappuccino ausgebe, Kaffee für eine Woche im Supermarkt kaufen könne. Und ja, wir hätten genauso gut den Zug anstelle des Taxis für die Fahrt nach Gyumri nehmen können, für ein Zehntel des Preises. Bei all dem kleinen Luxus, den ich mir während meiner Reise gönne, bemerke ich nicht, dass die Leute vor Ort in aller Regel froh sind, wenn ihnen am Ende des Monats noch ein paar Dram übrig bleiben. Armenien ist, und das übersieht man als Tourist, der sich in den „reichen“ Altstadtvierteln Yerevans oder Gyumris bewegt, schlichtweg ein armes Land.
Der zweite Punkt, der mich bewegt, ist die geografisch-politische Lage Armeniens. Armenien möchte der Europäischen Union beitreten, so hat es das armenische Parlament dieses Frühjahr beschlossen. Armeniens nördlicher Nachbar, Georgien, ist seit Dezember 2023 EU-Beitrittskandidat, insofern ist dies ein verständliches Anliegen. Zu den weiteren Nachbarn Armeniens, der Türkei im Westen und Aserbaidschan im Osten, bestehen jedoch gespannte Verhältnisse. Zur Türkei vor allem wegen des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs und der Leugnung desselben, aber auch wegen der Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Kars. Zu Aserbaidschan wegen des Konflikts um Bergkarabach, aber auch wegen des südlichen Korridors zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan, der auch die Einflusssphären des südlichen Nachbarn Iran betrifft. Die Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan sind geschlossen; die Grenze zur Türkei wird von russischen (!) Truppen bewacht; russische Truppen sind zudem in Gyumri stationiert. Ob der Begriff „Pulverfass“ angesichts der Bemühungen um eine diplomatische Verbesserung der Beziehungen der Nachbarstaaten untereinander angemessen ist oder nicht, überlasse ich jedem einzelnen. Ich würde das Bild von aneinander reibenden Mühlsteinen bevorzugen, auf die von unterschiedlichen Seiten Druck ausgeübt wird und mal mehr, mal weniger Reibung erzeugen.
Der dritte und letzte Punkt bezieht sich auf die tektonische Reibung in dieser Region – gemeint ist das Erdbeben von 1988 – und die Nachwirkungen desselben. Tagtäglich fahre ich in Gyumri an leerstehenden Gebäuden vorbei, an Ruinen, an ganzen ehemaligen Stadtteilen, die nur mehr aus Schutthalden zerstörter Gebäude bestehen. Beim Besuch der „Iron Fountain“ wurde mir dies besonders bewußt: Wo früher eine Universität stand, befindet sich außer dem Gerippe des Universitätsgebäudes nichts mehr. Ehemals geteerte Straßen sind nur mehr schnurgerade, kilometerlange Sand- und Schotterpisten, an denen noch vereinzelt bewohnte Häuser oder Blechverhaue stehen. Die noch existierenden Straßen zu den an anderer Stelle neu errichteten Trabantenstädten erinnern in ihrer Breite und der Existenz von Gehwegen daran, dass hier einst eine Vielzahl an Menschen gelebt hat. Fast 40 Jahre nach dem Erdbebeben, das mindestens 25.000 Tote und mehr als eine Million Obdachlose zur Folge hatte, sind diese Narben noch immer sichtbar.